Willkommen zu einem ungeliebtem Thema
Macht prägt Weltgeschichte und Familiendramen
Der Umgang mit Macht weist zwei Extreme auf. Da gibt es viele Menschen, die nach nichts mehr streben als nach wirtschaftlicher, politischer oder emotionaler Macht, vielleicht angeführt von Donald Trump. Und andere, vorwiegend im sozialen Bereich, die Macht fürchten und ablehnen.
Macht und Ohnmacht gehört in meinem Berufsfeld von Therapie, Pädagogik, Beratung, Kita und Schule zu den gefürchtesten Themen! Die meisten Menschen im sozialen Bereich bewerten Macht als schlecht, furchtbar und vermeiden alles, was nach Macht ausieht. Oft werden zum Beispiel flache Hierarchien gänzlich geleugnet, weil mensch als Leitung auf keinen Fall als Macht an sich reißend angesehen werden will.
Dabei beruht die Qualität all unserer privaten und beruflichen Beziehungen ganz entscheidend darauf, wie wir Macht, Ohnmacht und Selbst-Verantwortung im Alltag leben. Meistens tun wir das unbewusst – was aber natürlich nicht gerade von Vorteil ist.
Unser Umgang mit Macht prägt sowohl die Weltgeschichte und als auch unsere Familiengeschichten. Um die Liebe zu oder Verachtung von Macht zu verstehen, müssen wir uns zuerst mit Ohnmacht beschäftigen.
Aus Ohnmacht ohne Hilfe wird Trauma
Macht bedeutet etwas tun zu können und den Lauf der Dinge beeinflussen zu können, das Gegenteil ist Ohnmacht. Wenn wir nichts bewirken, nichts verändern, nichts beeinflussen können. Ohnmacht ist das gefährlichste Gefühl für alle lebendigen Wesen, denn Ohnmacht bedeutet sein Leben nicht schützen zu können, also Todesgefahr!
Ohnmacht ist deshalb nicht nur irgendein unangenehmes Gefühl, sondern das Gefühl, dass unser Nervensystem aus überlebenstechnischen Gründen am meisten fürchtet. Ohnmacht bedeutet Tod und das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.
Bevor wir Ohnmacht erleben, wird unser Kampf- und Fluchtmodus aktiviert. Aber wie wir alle wissen, kann man nicht in jeder Situation kämpfen oder flüchten. Wenn der Feind übermächtig ist, die Naturgewalt zu gross – dann erst erleben wir die Ohnmacht, also dass auch kämpfen oder flüchten zwecklos ist.
Die Folge einer realen überwältigenden Ohnmachtserfahrung, die wir nie wieder wiederholen wollen, ist ein Trauma. Trauma bedeutet, dass eine vergangene Erfahrung dazu führt, dass wir nicht mehr voll und ganz im Hier und Jetzt leben können. Trauma ist die Fähigkeit unseres Nervensystems, uns vor überwältigenden Gefühlen zu schützen, somit meiden wir im Außen bestimmte Situationen, von denen wir annehmen, dass sie schwierige, unaushaltbare Gefühle in uns auslösen könnten.
Das hat den grossen Vorteil, dass wir so überleben können, irgendwie funktionieren und Alltag gestalten können. Es hat den grossen Nachteil, dass wir innerlich Anteile in uns abspalten und unterdrücken müssen, also nicht mehr in unserer Ganzheit kreativ und flexibel agieren können. Trauma ist eine hocheffektive Kurzzeitlösung in gefährlichen und bedrohlichen Situationen, aber langfristig führt es zu einer grossen Einschränkung unserer Lebendigkeit und Lebensqualität.
Trauma ensteht nie allein aufgrund der äußeren Erfahrung, sei sie auch noch so schlimm. Erst wenn die äußere Situation dazu führt, dass wir uns ohnmächtig fühlen und keine Hilfe erfahren, wird die furchtbare Erfahrung zum Trauma. Das erklärt, warum einige Menschen ohne Trauma aus schwierigen Situationen hervorgehen und andere nicht. Trost und Hilfe in oder kurz nach einer bedrohlichen Situation zu erfahren kann Traumabildung vermeiden oder abmildern!
Wer mehr dazu lesen will, dem sei der Klassiker von Peter Levine dazu empfohlen: Worte ohne Sprache.
Das Monster in mir - wie uns Ohnmacht verwandelt
Es ist sehr hilfreich im Leben, seine eigenen Beziehungsmuster zu kennen. Allen voran sollte eigentlich jeder Mensch über sich selbst wissen, was Ohnmachtsgefühle in mir persönlich auslöst.
Ich z.B. habe mich letztens mit meinem Mist-Anhänger abgemüht und das tonnenschwere Ding hat sich um einen halben Zentimeter nicht in die richtige Richtung bewegt, so dass ich es nicht ankuppeln konnte. Das hat mich fuchtsteufels wütend gemacht, so kurz vor dem Ziel keine Chance zu haben und das widerum hat scheinbar alte Ohnmachtsgefühle in mir ausgelöst. Leider war mir das aber vor Ort im Moment noch gar nicht klar, so dass ich schimpfte und meckerte und meinen Sohn kräftig anfuhr, der dafür ja auch nichts konnte.
Wenn ich in damals sofort registriert hätte: Achtung: Du fühlst Dich ohnmächtig, Du brauchst Hilfe – dann wäre diese Situation nicht so unbefriedigend für uns beide verlaufen.
Aber ich war mir meiner Ohnmacht nicht bewusst und dann kam das schimpfende Monster in mir zum Vorschein, dass alle um sich herum angreift – anstatt auf die an sich einfache Lösung zu kommen sich Hilfe mit einer zusätzlichen Hand zu holen.
Das Mecker-Monster in mir ist mein Schutz vor Ohnmacht, es hat dafür gesorgt, dass ich im Moment nicht den Schmerz fühlen musste, wie es sich anfühlt, wenn Du keine Chance hast.
Nur leider zerstören diese Monster im Nebeneffekt Beziehungen, denn Meckern und Schimpfen verletzt verbal die Mitmenschen! In diesem Fall konnte ich wenigstens im Nachhinein Verantwortung für mein Gefühl übernehmen und mich bei meinem Sohn entschuldigen. Das sollten wir immer tun, wie spät auch immer, um dem Monster-Gift in Beziehungen langfristig seine Macht zu nehmen.
Buchtipp zum Thema Ohnmacht: Das Philosophenschiff
Das Buch „Das Philosophenschiff“ von Michael Köhlmeier ist nicht lang, dennoch sehr inhaltsschwer. Hier wird umgangssprachlich in grosser Dichte – als biographische Lebensgeschichte verpackt – erzählt, wie sich Ohnmacht individuell und kollektiv angesichts des politischen Terrors der Zeit um 1922 in Russland anfühlt.
„Fünf Tage lang liegt das titelgebende Schiff still auf offener See. An Bord herrscht unter den gerade mal zwölf Passagieren, alles des Landes verwiesene russische Intellektuelle, eine Atmosphäre der inneren Lähmung. So berichtet es die Protagonistin des Romans, Anouk Perlemann-Jacob, in St. Petersburg geborene einstige Erfolgsarchitektin, ihrem einzigen Zuhörer, dem Schriftsteller Köhlmeier – ja der Autor macht sich selbst zur Romanfigur.
Anouk – so ist die Konstruktion der Geschichte – hat Köhlmeier anlässlich ihres 100. Geburtstags zu sich gebeten, um einen Teil ihrer Lebensgeschichte aufschreiben zu lassen, den bislang noch niemand kenne. Denn sie war als 14-Jährige mit ihren Eltern genau auf diesem Schiff, auf dem niemand wusste, was hier eigentlich genau geschieht und ob sie nicht doch noch – wie so viele andere vorher – erschossen werden sollten:
Dass wegen so einem Häufchen dieses unvergleichliche Luxusschiff in Bewegung gesetzt wurde – wer sollte das glauben? Ich vermutete schon damals, dass diese Undenkbarkeit uns, die wir in den Kabinen der 3. Klasse untergebracht waren, mehr bedrückte als alles andere, was um uns herum geschah. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Aber niemand traute sich, diese Fragen auszusprechen. Aus Angst, jemand könnte die Antwort kennen.“
Zitat aus https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Michael-Koehlmeiers-Das-Philosophenschiff-Deportation-ins-Exil,koehlmeier136.html
Gibt es eine helle Seite der Macht?
Die dunkle Seite der Macht kennen wir alle zu gut.
– Macht durch Angst, Gewalt, Druck.
– Macht, die den anderen klein macht und entwürdigt.
– Führung, die Gehorsam verlangt und um jeden Preis Autorität durchsetzt.
Anstatt Macht und somit Führung generell zu verdammen, ist es heute möglich, das WIE anzuschauen. Wir wissen heute viel über eine sinnvolle Alternative zu autoritärer Führung: respektvolle/liebevolle Führung.
Wenn Du Macht auf respektvolle Weise anwendest, dann führst Du respektvoll. Alle sozialen Wesen, ob Menschen oder Tiere, lieben gute Führung, die grenzklar, angemessen und achtsam ist. Souveräne Führung macht das Gegenüber nicht klein und ist oft fast unsichtbar. Dann ist Führung wie ein Geländer, an dem Du Sicherheit und Orientierung findest.
Macht an sich ist weder schlecht noch gut – es kommt darauf an, WIE wir Macht ausüben.
Ohne Macht keine Führung: Wer keine Macht haben will, kann keine Führung übernehmen. Der Führungsstil kann heute zum Glück hinterfragt werden. Führungskräfte, die auf Augenhöhe führen wollten, sollten sich darin üben ihre Werte bewusst zu machen und allgemein hilfreiche Werte wie Integrität, Authentizität und Gleichwürdigkeit anwenden zu lernen.
Hierarchie, Führung aus biologischer/neurologischer Sicht
Menschen sind Herdentiere und deshalb genetisch auf Kooperation und auf Führung eingestellt. Gute Führung ist ein Segen für die Entwicklung von Kindern oder Organisationen, Hierarchie ist übrigens kein Hinderungsgrund für die helle Seite von Macht und Führung auf Augenhöhe. Das Problem ist wie bei Macht nie die Hierarchie an sich, sondern die Ausübung von destruktiver Macht, die dann mit Hierarchie legitimiert wird.
Selbst-Verantwortung in der Führungsmacht bedeutet, zur Hierarchie zu stehen und die eigene Rolle ehrlich zu reflektieren und verbessern zu können.
Ist liebevolle Führung also Diktatur der Harmonie?
Respektvoll Führen heisst nicht immer nett sein und jegliche Konflikte meiden!
Respekt bedeutet, dass mein Gegenüber alle Gefühle zeigen darf, die er hat (keine Lust, Ärger usw.) und das bedeutet nicht, dass ich schlecht führe.
Respektvoll Führen heisst auch im Konflikt im Kontakt mit sich selbst und dem Anderen zu bleiben, die Führungsverantwortung nicht dem anderen zuzuschieben (wenn Du anders wärst, dann…) und die Beziehung zu gestalten anstatt sich als Opfer oder Täter zu fühlen.
Eine der wichtigsten Kompetenzen respektvoller Führung ist nicht alles zu wissen, sondern zu erkennen, wann ich selbst hilflos werde und dann stoppen zu können. Dazu braucht es, dass ich micht gut selbst kennen, meine Ängste in Bezug auf Konflikte erforscht habe und in der Lage bin, mir Hilfe zu holen.
Wie kann ich eine Autorität sein ohne autoritär zu sein – vier Werte für das Miteinander
In der Regel haben wir keine Erfahrungen und keine Vorbilder, wie sich respektvolle Führung praktisch im Alltag anfühlt – denn unsere Eltern/Lehrer*nnen/Chefs kannten in der Regel nur autoritäre oder Laissez faire Führungsstile.
Meine Erfahrungen aus unzähligen Beratungen ist, dass wir oft gute Ideen und Vorstellungen haben, aber im Krisenfall wissen wir nicht, wie das Neue zur Anwendung kommt und fallen zurück ins Nichts-Tun oder ins autoritäre Gemecker/Gejammer/Vorwürfe machen/Erpressen.
Im Sinne einer neuen Haltung der Menschlichkeit müssen Erwachsenen deshalb lernen, was sie selbst als Kinder nicht lernen durften. Wegweisend aus meiner Sicht sind dabei die vier Werte Integrität, Selbst-Verantwortung, Authentizität und Gleichwürdigkeit. Nur auf dieser Basis gelingt es Beziehungs- und Führungskompetenz auf ein neues Fundament zu stellen.
Selbst-Verantwortung - die unbekannte Kompetenz
Sich selbst wichtig nehmen ist den meisten Menschen fremd in unserer Gesellschaft. Das kommt daher, dass in autoritären Beziehungen, also Beziehungen mit einem Machtgefälle, Selbst-Verantwortung gefährlich ist. Stell Dir vor, Du sagst Deinem Chef/Deiner Chefin, was Du wirklich willst und das stößt nicht auf Verständnis, sondern wird als Angriff aufgefasst… dann bist Du Deinen Job vielleicht schnell los. Damit Vorgesetzte oder Lehrer*innen in autoritären Kulturen nichts befürchten müssen, wird „sich selbst ernst nehmen und formulieren können, was ich will“ als Egozentrismus oder Narzismus hingestellt und moralisch abgewertet.
Das klappt prima – finde mal jemanden in den älteren Generationen, der nicht mit dem hemmenden Satz „ich will sagt man nicht“ aufgewachsen ist. Und der „ich will“ sagen kann, ohne das subjektive Gefühl von Weltzusammenbruch und sozialer Scham zu erleben.
Wie frustrierend es ist, wenn Menschen nicht den Weg in die Selbst-Verantwortung finden zeigt die koreanische Serie „Mr. Sunshine“. Im Leben des Filmheldes ist aufgrund von Vertreibung und Kriegausbruch um 1900 sehr wenig wirklich sonnig. Normalerweise schaue ich keine Filme und Serien, die keine Lösungswege aufzeigen, denn meistens kennen wir ja das Scheitern gut genug. Reichlich Gelingensgeschichten findest Du in meinem Blogartikel über koreanische Serien, die Dein Herz heilen.
Aber in der äußerst hochwertigen Serie „Mr. Sunshine“ (die mir in allen anderen Aspekte viel Freude gemacht hat, z.B. die wunderbare 3er Männerfreundschaft) kannst Du studieren und erleben, wie frustriert oder dauerhaft leidend vier von fünf Hauptpersonen sind, weil sie nicht wagen ihre persönlichen Bedürfnisse auszusprechen und in die echten Beziehungen einzubringen. Eine Beziehung verändert sich nämlich, wenn Du Deine Bedürfnisse formulierst anstatt alles nur in Deinem Kopf durchzuspielen. Alle unterdrücken ihren Wunsch nach Nähe und Verbindung – und alle leiden deshalb noch viel mehr als nötig an der politischen Lage. Dabei müsste sich das gar nicht ausschließen – leider ein Manko dieser sonst so eindringlichen Serie.
Da ich davon ausgehe, dass Du lieber ein Happy End als ein Sad Ending in Deinem Leben erlebst, sollten wir moderne Beziehungen führen, in denen Selbst-Verantwortung eine der tragenden Säulen ist, ohne die es nicht geht. Nur mit Selbst-Verantwortung, also z.B. mit Sätzen wie „ich will“ oder „ich will nicht“ können wir in Dialog gehen und auf Augenhöhe verhandeln. Nur mit Selbst-Verantwortung können wir aufhören uns als Opfer der Umstände zu inszenieren oder uns zu rechtfertigen – was der Tod jedes Dialogs ist!
Damit Du so richtig überzeugt bist, das Selbst-Verantwortung entgegen aller gesellschaftlichen Vorurteile ein gute Idee für Dein Beziehungsglück ist, liste ich hier ein paar Vorteile auf:
Du bekommst genau das, was Du brauchst
Keiner kennt Dich so gut, wie Du selbst und daher weiß niemand Anderes automatisch, was Dir am meisten gut tun würde. Denke nicht, dass wir alle die gleichen Bedürfnisse haben. Während eine ärgerliche Person z.B. Distanz und Ruhe braucht, kann eine andere ärgerliche Person sich Nähe und Halt wünschen. Beides ist okay, aber nur Du selbst weisst, was gerade für Dich passend ist. Zu erwarten, dass unsere Mitmenschen hellsehen könnten, was unser momentanes individuelles Bedürfnis ist, ignoriert erstens den Fakt, dass wir getrennte Wesen sind und zweitens macht es Dich abhängig von anderen. Wenn Du also glaubst, Dein*e Partner*in müsste doch „einfach“ wissen, was zu tun oder zu lassen ist, wenn Du z.B. traurig bist – dann wirst Du mit dieser Einstellung aktiv verhindern, dass ihr wirklich in Kontakt kommt und am Ende zusammen glücklich werden könntet.
Nur wenn Du aussprechen kannst, was Du für Dich willst,
kannst Du eine Beziehung aktiv gestalten.
Beziehungen auf Augenhöhe brauchen zwei Beteiligte, die jeweils wissen, was ihnen gut tut und was sie wollen und nicht wollen. Aus diesem Wissen heraus, was Du überhaupt willst, kannst Du Deine Beziehungen in eine Richtung aktiv gestalten und bist nicht in der Warte-Position. Du kannst Deiner/m Partner*in sagen: „Ich bin traurig und mir würde es jetzt gut tun, wenn Du mich in den Arm nehmen könntest. Kannst Du das tun?“ Zu dieser Aussage über Dich selbst, was Du brauchst und willst, kann Dein*e Partner*in jederzeit JA oder NEIN sagen. Es gibt keinen Anspruch, dass Dein*e Partner*in Deinem Wunsch nachkommen muss. Vielleicht sagt er: „Ja gerne, mach ich.“ oder er sagt „Ich bin selbst so fertig gerade, ich kann Dich gerade nicht umarmen, ich will für mich selbst sorgen.“ Beides ist okay. Denn Dein*e Partner*in ist nicht für Deine Bedürfnisse verantwortlich. Es kann also sein, dass Du gut formulieren kannst, was Du brauchst und dennoch Dein*e Partner*in Dir dies gerade jetzt nicht geben kann oder will. In einer Beziehung auf Augenhöhe lernst Du das auszuhalten und machst Deiner/m Partner*in keine Vorwürfe. Du kümmerst Dich dann selbst Dich, z.B. um Deine Traurigkeit.Selbst-Verantwortung ist die Voraussetzung dafür, dass wir sozial sein können
Wenn es ums Überleben geht, dann gibt es bei Flugzeugunfällen eine klare Regel: Setze Dir unbedingt zuerst selbst die Sauerstoffmaske auf, denn nur das versetzt Dich in die Lage andern helfen zu können. Andersherum funktioniert es nämlich nicht: Wenn Du erst alle anderen bedienst, geht Dir der Sauerstoff aus und damit gefährdest Du nicht nur Dich allein, sondern alle, die gerade von Dir abhängig sind: Alte, Kranke, Kinder, Schwache usw. Im Alltag handelt seltsamerweise fast niemand nach diesem Prinzip. Meistens lehrt uns erst ein Burnout oder eine schwere Krankheit, dass wir unseren anerzogenen Ängste und Widerstände überwinden müssen und nur hilfreich für Andere sein können, wenn wir zuerst dafür sorgen, dass es uns selbst gut geht.
Die Freiheit erleben, für mich Entscheidungen zu treffen
Das Gute daran: Erst durch die Selbst-Verantwortung bin ich nicht mehr abhängig vom Gegenüber. Wenn ich ein NEIN als Antwort bekomme, dann ist nicht mein Bedürfnis falsch sondern ich kann eine neue Form finden, wie ich das bekomme, was ich brauche. Wenn mein*e Partner*in nicht mit mir Bergwanderurlaub machen will, kann ich das mit andern Menschen realisieren. Und auch ich darf zu den Bedürfnissen Anderer, auch wenn ich sie noch sehr schätze oder liebe, einfach NEIN sagen!Ohne Selbst-Verantwortung erzeugen wir Scham und Schuld beim Gegenüber
Wer keine Selbst-Verantwortung für seine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse übernimmt, erzeugt unbewusst beim Gegenüber Scham und Schuld. Viele von uns haben leider schon als Kinder nicht erlebt, dass ihre Eltern wirklich selbst für ihre Gefühle Verantwortung übernommen haben. Der Klassiker verschobener Verantwortung ist der Satz „Wenn Du nicht lieb bist, dann wird Mama ganz traurig“. Und diese Muster leben wir in unserer Partnerschaft weiter, wenn wir denken oder sagen: „Wie kannst Du nur …, Du müsstest doch wissen, was man da macht.“Ohne Selbst-Verantwortung entstehen immer Konflikte!
Wenn wir Erwartungen an Andere haben statt für uns selbst zu sorgen, sind wir mehr beim Anderen als bei uns selbst. Und da niemand allen möglichen Erwartungen von außen gerecht werden kann, stellt sich früher oder später Frust, Ärger, Enttäuschung ein. Das Gegenüber fühlt sich falsch oder dumm. Häufig werden dadurch endlose Rechtfertigungen aktiviert, die ebenfalls nicht zielführend sind eine Beziehung aktiv und konstruktiv zu gestalten. Erwartungen sind immer übergriffig und führen immer zu Distanz bis hin zum Beziehungsabbruch.
Buchtipp Jesper Juul: Dein selbstbestimmtes Kind
„Das letzte Werk von Europas renommiertestem Familientherapeuten und Bestsellerautor Jesper Juul
Es gibt Kinder, die wissen schon früh ganz genau, was sie wollen. Diesen selbstbestimmten Kindern ist es wichtig, dass man sie ernst nimmt. Den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder gerecht zu werden, stellt Eltern nicht selten vor große Herausforderungen. Der renommierte Familientherapeut Jesper Juul plädiert für ein offenes und authentisches Miteinander anstelle von Machtkämpfen, Manipulation oder gar Kapitulation. In diesem, seinem letzten Buch beantwortet er über dreißig konkrete Fragen, die ihm von betroffenen Eltern gestellt wurden, und erklärt, wie Eltern diese Kinder besser verstehen und gut ins Leben begleiten können, ohne sich dabei selbst aufzureiben.“ Beschreibung auf Buch7
Serientipp The K2: Wie man Machthungrige zähmen kann
Die koreanische Serie „The K2“ ist eine sehenswerte Action-Romanze, die durch beeindruckende Dialoge zum Thema Macht und eine ungewöhnliche Lösung besticht.
Der Filmheld ist autonomer Charakter (siehe auch das Buch von Jesper Juul: Dein selbstbestimmtes Kind), der anfangs auf Rachefeldzug ist. Ich finde es eine der stärksten Rollen von Schauspieler Ji Chang-wook. Dabei stößt er nicht nur auf seine zukünftige Liebe (dieser Handlungstrang ist nicht so interessant) sondern auch auf deren Stiefmutter. Letztere will ihn unterwerfen und wie er dieser machthungrigen Frau immer wieder auf Augenhöhe begegnet ist wirklich umwerfend. Das bringt die Stiefmutter in ihren eigenen Prozess der Traumaaufarbeitung und am Ende in eine Lösung aus Liebe zu ihm.
Serientipp Mr. Plankton: Wenn das Schicksal Dich ohnmächtig macht
Ich finde die koreanische Serie „Mr. Plankton“ eine ideale Lehr-Geschichte zum Thema Ohnmacht und Selbst-Verantwortung.
Die Serie ist gleichermaßen witzig und zu Tränen rührend, temporeich turbulent und doch nicht oberflächlich. Ein gelungenes Roadmovie mit dem Grundthema „knockin´ on heavens door“.
Das hervorragende Schauspiel und Zusammenspiel der fünf Hauptdarsteller und der runde Storyaufbau machen diese Serie zu einem meiner K-Drama-Highlights. Und zur perfekten Form passt die Tiefe des Inhalts:
Die Geschichte dieser Serie führt gekonnt vor Augen, dass es ein Paradox ist: Nur wer hartnäckig sein eigenes Glück sucht wird am Ende auch andere glücklich machen. Es ist alter Mythos der autoritären Beziehungskultur, dass wir uns zum Wohle aller „zurücknehmen“ müssten. Wenn wir uns selbst wirklich ernst nehmen, werden wir nicht egozentrisch oder narzistisch sondern selbst-verantwortlich. Narzismus entsteht aus Mangel Liebe, nicht aus echter Selbst-Liebe!
Dieses Beziehungs-Naturgesetz nenne ich als Beziehungscoach Selbst-Verantwortung, Jesper Juul nennt es persönliche Verantwortung und Veit Lindau charakterisiert es treffend als erleuchteten Egoismus.
Filmhauptfigur Mr. Plankton empfindet sich am unteren Ende von allem, veraten von den Eltern, benachteiligt vom Leben und ist somit ein typisches herausforderndes „Kind“, dass jede Kooperation mit der Gesellschaft aufgegeben hat. Als er dann noch die Diagnose einer tödlichen Erkrankung erhält, startet er einen letzten Anlauf sein „Glück“ zu finden.
Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen von Verlassenwerden ist er selbst Meister von Beziehungsabbrüchen geworden. Mit dem Kopf durch die Wand kämpft er sich durch seine letzten Tage und macht eigentlich alles falsch. Er versteckt sein Inneres, er stimmt sich nicht mit seinen Mitmenschen ab, er entführt seine Ex-Liebe am Hochzeitstag und versetzt sie dann doch wieder, er reisst durch seine egoistischen Handlungen scheinbar alle um sich herum mit in den Abgrund.
Am Ende aber wird er aber genau durch seine bedingungslose Suche nach seiner Herkunft und seiner Liebe erleben, dass er Freunde hat, Menschen inspiriert, Liebe geben und nehmen kann. Er wird – ganz absichtslos – auch andere Menschen mitreissen, so daß sie jeweils in ihre eigene Kraft wachsen können.
Deswegen wird der persönliche Tod nicht einfacher, aber doch zum Katalysator von Persönlichkeitsentwicklung von ihm selbst und seinen Mitmenschen, so dass sie gemeinsam Ohnmacht und Schicksal entkommen können.
Den Schmerz teilen, Freunde erkennen und als Freund gesehen werden, lieben und sich lieben lassen können – nur das schenkt tiefe Verbundenheit und fühlbare Lebendigkeit, die selbst der Tod uns nicht nehmen kann.